Über das Ortschild geklettert und los geht’s!

Über das Ortschild geklettert und los geht’s!

Der Tag ist noch frisch und riecht nach sattem Spätsommer. Um viertel nach sieben sollen sie kommen – ein paar meiner lieben Freunde und Freundinnen und meine Mutter. Sie werden mich bis zum Ortschild meines Heimatortes begleiten und mich so auf die WirtschaftsWandelWalz entlassen und verabschieden. 

Doch klar: Alle sind ein bisschen zu spät und ich eveeeeentuell auch ein bisschen. Und so kommt es, dass wir nicht wie verabredet um viertel nach sieben vor dem Haus stehen, sondern… dass ich genau zur Vollmondzeit um 07:22 Uhr des heutigen 2. Septembers über die Schwelle meiner Haustür schreite. Ich finde das super schön, denn ich wollte ja genau zu Vollmond losgehen. Und das bin ich dann wohl auch. Und das heißt: Jetzt geht’s richtig los! Ich bin auf der WirtschaftsWandelWalz!

Ich raune ein leises, sehr dankbares und etwas wehmütiges „Tschüss, liebes Zuhause“. Und dann ziehen wir los – bepackt mit meinem Walz-Rucksack, einer Grabgabel und meiner Walz-Wünsche-Flasche. Am Vorabend haben meine Lieben die Flaschen mit Worten und Wünschen befüllt, die sie mir mit auf meine Wanderschaft geben wollen. Keinen einzigen Zettel habe ich bis jetzt gelesen. Den Ritualen der traditionellen Walz entsprechend werde ich die Flasche am Ortschild (innerorts!) verbuddeln. Bei meiner Heimkehr im September nächsten Jahres werde ich sie wieder ausgraben und erst dann die Wünsche und Grüße lesen. Hui, ich bin wirklich gespannt, was davon wahr geworden und was ganz anders gelaufen sein wird als gedacht oder gewünscht!

WirtschaftsWandelWalz-Farewell-wuensche-Flasche
Am Vortag war die Wünsche-Flasch noch leer. Heute ist sie gut gefüllt mit allerlerei Worten.


Etwas ulkig kommen wir uns vor, wie wir so früh morgens durch den Ort ziehen. Schon jetzt kommt richtig das Gefühl von Wanderschaft auf. Aber ganz verinnerlicht habe ich es noch nicht, dass ich nun über ein Jahr unterwegs sein werde. Ich genieße es sehr, dass alle mit mir zum Ortschild stapfen.

Und dann sind wir da: am auserkorenen Ortschild von Grafing in Richtung Unterelkofen. Losziehen werde ich in die Himmelsrichtung Osten – in Richtung des Sonnenaufgangs, Aufbruch und Neuanfang. Schnell ernennen wir auch einen geeigneten Platz, an dem die Wünsche-Flasche verbuddelt wird. Das Loch gegraben, die Flasche versenkt und verdeckt.  Somit gebe ich Wünsche an unsere Erde ab. Auf dass ich gut behütet gehe. Dann singen wir gemeinsam im Kreis einen letzten Jodler – ja, ich hätte nie gedacht, dass ich doch mal ein „bayrisches“ Hobby haben werde, aber das Jodeln ist einfach der Hammer. Kraftvoll und einfach schön!

Und dann wissen wir was jetzt kommt. Das Verabschieden. Ein bisschen betroffen und traurig ist die Stimmung schon. Aber auch voller Spannung und Vorfreude. Und wir alle wissen, anders als bei der traditionellen Walz habe ich mir keine Bannmeile um meinen Heimatort gesteckt. Die Bannmeile ist ein Kreis von meinst 50km um den jeweiligen Heimatort eines Tippelbruders oder eine Tippelschwester. Traditionelle Wandergesell*innen dürfen dieses Gebiet für die gesamte Zeit ihrer Walz nicht betreten. Doch ich bin keine zünftige Gesellin und somit hat meine Wanderschaft andere WalzRegeln – unteranderem keine Bannmeile! Puh! Warum keine Bannmeile? Aus zwei Gründen: Erstens wegen der unsicheren Zeit bezüglich Corona. Und zweitens wegen unserem derzeitigen Jurten-Projekt in Grafing, das ich mit initiiert haben und nun nicht einfach so fallen lassen möchte. Man muss sich ja nicht zu allem zwingen… Dachte ich.

Und jetzt kommt wortwörtlich der Höhepunkt: Ich muss übers Ortschild! Also: Über das Ortschild geklettert und los geht’s! Räuberleiter links und rechts. Rüber das eine Bein und rüber das andere Bein und zack. Ich bin draußen. Die liebe Freundin, die mich begleitet läuft einfach sicheren Fußes über die Grenze der Kleinstadt. Rucksack auf und dann geht’s los. Kein Blick mehr zurück! Den Regeln der alten Walz folgend. Der Blick nach vorne, in Richtung Zukunft!


Ein paar Meter sind wir gegangen und dann kommt doch noch ein Gruß von hinten. Ein kraftvoller, starker, heiter Jodler von einer meiner lieben Freundinnen. Wow! Nebelverhangene Landschaft, eine wunderschöne Blühwiese direkt neben uns und dieser zauberhafte akustische Abschiedsgruß. Ein wahrhaft wunderbarer Moment und Start für meine WirtschaftsWandelWalz! Und dann verstummt der Gesang von hinten. Nichts mehr zu hören. Aber noch müsste sie uns sehen. Nach ein paar Sekunden ich sage zu Ayla, meiner Freundin, die mich begleitet: „Da könnt ich jetzt noch einen hinterher schmettern.“ Und das mache ich auch. Und so sehen meine Lieben, die am Ortsschild zurückbleiben, uns unter meinem Jodel-Abschiedsgruß hinterm Maisfeld verschwinden.

Wirtschaftswandelwalz-Aufbruch-uebers-ortschild-und-los-gehts
Ein paar Meter weiter dann ertönt der Abschieds-Jodler!

Hui! Jetzt ist es soweit – meine WirtschaftsWandelWalz beginnt. Und für mich beginnt ein spannendes, sicherlich sehr lehrreiches und aufregendes Jahr. Wir stapfen die Allee hinab. Witzig und komisch fühle ich mich. Schön, dass Ayla mich begleitet. Das macht den Start einfacher und sanfter. Bis morgen Früh wird sie bei mir sein. Einen Tag und eine Nacht. Und dann geht es für mich allein weiter. In Richtung Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftens!